Der Antisemitismus im Internet hat ein erschreckendes Ausmaß erreicht. Dabei gibt es nicht nur Unterschiede zwischen europäischen Ländern, sondern auch neue, zum Teil besorgniserregende Formen. Zu diesem Ergebnis kommt ein internationales Wissenschaftlerteam in der ersten länderübergreifenden Studie zum Antisemitismus im Internet. Sie entstand im Rahmen des Forschungsprojekts„Decoding Antisemitism“, also „Antisemitismus entschlüsseln“, und wurde geleitet von Matthias J. Becker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität (TU) Berlin. Dieser hat die Ergebnisse am Donnerstag in Berlin vorgestellt.
„Schon lange wissen wir, dass der Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg nicht einfach verschwunden ist, sondern entweder ins Private wanderte oder in der Öffentlichkeit codierte Formen angenommen hat“, sagt Matthias J. Becker. Mit Antisemitismus ist hier nicht berechtigte Kritik an der Politik Israels gemeint, sondern eine komplexe Hassideologie, in der „Judenhäufig der Verschwörung zum Schaden der Menschheit“ angeklagt würden und die oft benutzt werde, um Juden „dafür verantwortlich zu machen, ‚wenn etwas falsch läuft‘“, wie es in einer Antisemitismus-Definition im Internet heißt.
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12.04.2024
In der Studie geht es nicht um den offenen Antisemitismus rechter Medien oder Akteure. Sondern sie erfasst zum ersten Mal die alltägliche Kommunikation in sogenannten Mainstream-Medien, und zwar in den Ländern Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Untersucht wurden dafür im Zeitraum von 2020 bis 2024 die Nutzerkommentare auf Online-Seiten von Zeitungen wie The Guardian, Le Monde oder Die Zeit sowie unter deren Accounts auf sozialen Plattformen wie Facebook, X (einst Twitter), Instagram und TikTok.
Auswertung von Hassreden und Bildern im Umfeld von Ereignissen
Gerade die impliziten – also nicht klar und eindeutig geäußerten – Formen des Antisemitismus seien schwer zu analysieren, weil man sie im Kontext sehen müsse, erklärt Mattias J. Becker. Deshalb werteten die Forscher „Hassreden und Bilder im Internet“ im Zusammenhang mit bestimmten Ereignissen aus, zum Beispiel mit dem Hamas-Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober 2023, mit den international viel beachteten Äußerungen des Rappers Kanye West oder des Milliardärs Elon Musk, „die online hohe Wellen von Antisemitismus auslösten“, mit den Debatten rund um die Documenta 15, mit Übergriffen auf Straßen oder KZ-Gerichtsprozessen in Deutschland. DreiLänderteams mit 20 Forschern unter Leitung der TU führten dabei 27 Fallstudien durch und analysierten etwa 130.000 Nutzerkommentare, teilweise mithilfevon Künstlicher Intelligenz (KI).
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„In politisch gemäßigten Online-Milieus sind 80 bis 85 Prozent des Antisemitismus implizit, also in Form von Anspielungen, Wortspielen, rhetorischen Fragen. Der wird bei den gängigen quantitativen Umfragen vom Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus oder dem American Jewish Committee Berlin, die bereits eine Zunahme festgestellt haben, gar nicht aufgedeckt“, sagt Matthias J. Becker. „Das bedeutet, es gibt eine riesige Dunkelziffer.“ Man könne des Problems nur Herr werden, wenn man über einen langen Zeitraum hinweg qualitative Analysen großer Datenmengen durchführe.
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Die Studie bringt unzählige Beispiele für solche impliziten Formen. So nimmt etwa jemand Bezug auf Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ und formuliert es in „Schwindlers List“ um. „So wird der Holocaust als Lüge, aber auch gleichzeitig als Strategie (List) dargestellt“, sagt Becker. Es gebe Wortspiele wie „Satanyahu“, „Holohoax“, „Zionazis“, „Israhell“, „ISSrael“, „Israheil“ und andere. Man finde Anspielungen auf „die Lobby, die unser Land beim Wickel hat“, auf die „Globalisten mit Schläfenlocken“ oder: „Der österreichische Künstler hatte recht.“ Dazu gebe es implizite NS-Vergleiche, etwa die „Endlösung der Palästinenserfrage“, sowie indirekte Sprechakte: „Wer hält nun schon wieder die Hand auf?“ Und: „Wem gehören die britischen Medien? Lest die News zu Israel.“
Verschiedene Stereotype wie Macht, Gier und Kindermord
„Je nach Diskursereignis wurden in den drei Ländern unterschiedliche Stereotype bedient, wie Macht, Gier, Kindermord, aber auch NS- und Apartheid-Analogien in Bezug auf Israel“, sagt der Studienleiter.Genutzt werden dabei auch Symbole, Icons, Memes oder sogenannte Deepfakes, bei denen reale Stimmen und reale Personen missbraucht werden, um Fälschungen herzustellen.
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Um Antisemitismus im Netz aufzuspüren, entwickelte ein Data-Science-Team der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin KI-Modelle. An der Studie beteiligt waren auch die University of Michigan, das Cardiff University’s HateLab und das King’s College London.
Die Forscher stellten zwischen den untersuchten Ländern große Unterschiede fest. So sei der Antisemitismus in den untersuchten Medien Großbritanniens im Untersuchungszeitraum am meisten verbreitet gewesen, gefolgt von denen in Frankreich und Deutschland. In Großbritannien spielten zum Beispiel antisemitische Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit Corona und dem Ukrainekrieg eine große Rolle, in Deutschland finde man sie kaum. Becker erklärt dies damit, dass Englisch eine Weltsprache sei und im Guardian zum Beispiel Nutzer aus der ganzen Welt kommunizierten. In Großbritannien sei das Bewusstsein über Antisemitismus auch geschichtsbedingt deutlich geringer als in Deutschland. Dort stehe eher die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus im Vordergrund.
Für Deutschland sehen die Forscher eher codierte Formen. „Keiner will Antisemit genannt werden. Die Leute sagen dann eher, sie kämpfen für Unrecht und gegen Apartheid und Genozid“, erklärt Becker. Mittels codierter Kommunikation könne man sich aber von der angeblich unwissenden Masse abheben. Man könne sagen, man habe „es verstanden, wenn zum Beispiel eine Wirtschaftskrise auftaucht oder Putin mit Nuklearwaffen droht, dass da der Jude dahintersteht“.
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14.03.2024
Offene Glorifizierung von Gewalt und Mord gegen Juden
Eine international völlig neue Form antisemitischer Kommunikation habe der Terrorangriff auf Israel vom 7. Oktober 2023 hervorgerufen, sagt Matthias J. Becker. Die bisherigen antisemitischen Stereotype seien am Tag selbst und in der Woche danach in eine offene Glorifizierung von Gewalt und Mord gegen Juden umgeschlagen, mit Kommentaren wie: „Ist richtig so“, „Das sollte jetzt jeden Tag passieren“, „Die weiblichen Opfer verdienen das.“ „Auf der britischen Seite waren das teils mehr als 50 Prozent der Kommentare, auf französischer Seite manchmal sogar 60 Prozent und in Deutschland bis zu 25 Prozent.“ Als schockierend empfinden die Forscher die Verbindung von „dehumanisierenden Äußerungen“ mit Sexismus und p*rnografischen Inhalten. In den Folgewochen sei der Online-Diskurs wieder zurückgekehrt „zu den üblichen Mustern der Dämonisierung Israels“.
Die Forscher sehen das interaktive Web als „einen Ort der massenhaften Verbreitung und Normalisierung von Hassrede und antidemokratischen Ressentiments“. Sie haben ein Lexikon entwickelt, in dem 40 antisemitische Konzepte bestehend aus Stereotypen, Analogien und diskursiven Strategien erklärt werden. Auch, damit man diese im Internet erkennen und ihnen entgegenwirken kann. „Anders verhält es sich natürlich bei Gewaltverherrlichungen“, sagt Matthias J. Becker. „Hier liegt ganz klar eine Meldepflicht vor.“